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Corona Guitar Kvartet
Werke von Bach, Ravel, Morley, Hsueh-Yung Shen, Piazzolla
Aufgenommen 2006/2007
Albany Records [Albany Records] TROY 1084
… die Dänen gehen sehr sensibel mit der Musik um …
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Corona Guitar Kvartet [Corona Kvartet]: Dan Marmorstein: Just before the Dawn
Aufgenommen im Mai 1994 und August 1998, erschienen 2001
tutl records [tutl records] FKT 17
Corona Guitar Kvartet [Corona Kvartet]
Northpoints
Werke von John Frandsen, Østen Mikal Ore, Wayne Siegel, Hans-Henrik Nordstrøm, Sven Hedegaard
Aufgenommen 2002/2003
IRIS RECORDS [IRIS] IRISCD 0301. Das Lebel gibt es nicht mehr, die CD wird jetzt über Tutl vertrieben [tutl records].
Corona Guitar Kvartet [Corona Kvartet]
Jonas Tamulionis: Selected Compositions for Guitar
Aufgenommen 2004
Albany Records [Albany Records] TROY 811
Die frischste CD, die mir vom dänischen Corona-Quartett vorliegt, macht den Eindruck, sie sei seine Debüt-CD. Da gibt es nämlich das Italienische Konzert BWV 971, „Ma Mère d’Oye“ von Debussy, ein paar Sätze von Thomas Morley und schließlich „Polarnætter“ von Hsueh-Yung Shen und vier Sätze von Astor Piazzolla. Aber verstehen Sie mich jetzt bitte nicht falsch! Das Quartett spielt keineswegs so, dass man es für blutige Anfänger halten könnte und die Musiker liefern auch kein Sammelsurium aus charmanten, risikoarmen aber rotzfrech virtuos daherkommenden Petitessen. Keineswegs!
Das Corona-Quartett aus Dänemark hat lange vor dieser „Debüt-CD“ kundgetan, dass es ganz andere Wege gehen will. Mehr als zehn Jahre vorher hat es eine CD mit Musik von Dan Marmorstein aufgenommen, mit Stücken, die sich ganz und gar nicht zu einem Debütprogramm eignen wollen … jedenfalls nicht zu dem Debüt von reisenden Virtuosen. Meine Meinung über die CD „Just before the Dawn“ habe ich schon 2002 kundgetan (in Gitarre & Laute, XXIV/2002, Nº 2, S. 15—16) und prinzipiell stehe ich zu ihr, bis auf die Tatsache vielleicht, dass ich die Aufnahme heute höher werten würde. Mindestens mit vier, vermutlich mit fünf Sternchen. Das liegt daran, dass ich die weitere Entwicklung des Quartetts jetzt kenne und dass ich das Standard-Repertoire zur Genüge genossen habe.
„Northpoints” war die zweite CD: „5 Contemporary Danish Works for Guitar Quartet”. „Neon Enlightened” von Østen Mikal Ore und „East L.A.Phase“ von Wane Siegel sind dabei für mich die Stücke, die diesem Programm einen roten Faden geben, eine Art Leitlinie … obwohl sie unterschiedlicher kaum sein können und obwohl sie keineswegs durch das Programm führen, sondern nebeneinander stehen. Das eine Stück, „Neon Enlightened” ist die leise und sensible Erzählung eines Kommens und Gehens … nein … des Kommens und Gehens. Des Entstehens der Welt. Klänge, die erst keine Nähe erkennen lassen, finden und vereinen sich, um sich aber gleich wieder zu verlieren und um am Schluss wieder auseinander zu driften und in die Stille hinab zu sinken. Oder „herab zu sinken“? Immer wieder kennt man Muster wieder, Klangmuster, die man eben erst gehört hat.
„East L.A.Phase“ treibt ein ganz anderer Puls. Auch hier finden sich kleinste Einheiten, um miteinander zu kopulieren und Neues entstehen zu lassen. Immer wieder und die Teile kommen sich immer näher, um sich dann wieder zu verlieren. „Phase shifting“ haben die amerikanischen Minimalisten das genannt. Parallel geht nicht, jedenfalls nicht in der „unendlichen“ Wiederholung.
Dybro Sørensen, Volkmar Zimmermann, Kristian Gantriis und Mikkel Andersen, das sind die Mitglieder des Quartetts, haben hier eine außerordentlich dichte und fein differenzierte Sammlung von Stücken vorgeführt. Man muss als Hörer Zeit haben, sich in diese Klangwelten fallen zu lassen. Wenn ich die Komponisten der anderen Stücke nicht erwähne, will ich damit nicht werten!
Szenenwechsel? Jonas Tamulionis ist aus Litauen, nicht aus Dänemark, und die Musik, die man hier zu hören bekommt, ist auch nicht ausschließlich für Gitarrenquartett geschrieben. Aber alle Stücke sind von Jonas Tamulionis!
Jonas ist 1949 in Vilnius geboren, hat dort studiert und lehrt heute das Fach „Computergesteuerte Notensatz-Techniken“ an der Musikakademie. Mit der Gitarre hatte er nichts zu tun bis er 1997 Volkmar Zimmermann kennenlernte, primus inter pares im Corona Guitar Kvartet. Jonas Tamulionis willigte ein, ein Stück für vier Gitarren zu schreiben: „Per suonare a Quattro“. Das Stück wurde in Kopenhagen uraufgeführt. Es ist des Komponisten Opus 257!
Irgendwie hat das Stück Mühe, in Gang zu kommen. Akkorde tauchen auf aus dem Nichts, stabilisieren sich … und verschwinden wieder. Sie fiebern ständig, vibrieren und flimmern. Hie und dort tut sich ein Ton hervor, tut sich hervor in der klanglichen Fläche. Aber ohne jede Konsequenz. Das Geschehen, in dem außerdem nichts geschieht, wird immer lauter und dominanter und das Klangchaos verschwindet wieder im Nichts, von wo es gekommen ist. Der zweite Satz dreht sich knapp drei Minuten um eine ostinate Folge des immer gleichen Akkords, umspielt sie, wehrt sich gegen sie, und vereint sich schließlich mit ihr. Dann kommt ein Satz, der in mir etwas anrührt. Eine Erinnerung an Cuba, an ein anderes, sehr vertrautes Stück für Gitarren. Meine Erinnerung ist sehr deutlich und sehr plastisch und sie irritiert mich. Den vierten Satz regieren wieder Akkorde – aber anders. Sie werden zerlegt und analysiert, nebeneinander, übereinander, in immer gleichen Figuren. Und dann schließlich lösen sie sich auf und es wird sehr rund und harmonisch. Der letzte Satz schließlich („Allegro molto con fuoco“ überschrieben) lebt auch von ostinaten Figuren, die sich durch das Stück ziehen und ostinat ist hier ein Akkord und es ist ein ständig repetiertes Muster, das drängt und sich durchsetzt … ohne das am Schluss zu schaffen. Es zerfließt und rinnt dahin und schließt dann klangmächtig.
Die anderen Werke von Jonas Tamulionis werden nicht vom Quartett gespielt und doch auf Gitarren. Ester Poli und Leopoldo Saracino, zwei italienische Musiker, gehören zum Ensemble. Elf Preludes für Gitarre solo werden gegeben, eine Sonate für zwei Gitarren und ein Trio. Die Werke entstanden zwischen 1978 und 2004.
Jonas Tamulionis liebt es, Klangteppiche auszurollen, auf deren Farben und Mustern sich Musiken bewegen, sich an ihnen reiben und sich dann auch mit ihnen vereinen. Dabei entstehen raffinierte, manchmal aber auch eher platte Cluster und oft beglückende Muster wie in „Perpetuum Mobile“ op. 292. Vieles ist minimal und dreht sich um sich selbst, vieles basiert auf ostinaten Formen, die harmonisch, rhythmisch oder einfach nur klanglich angelegt sein können. Muster, so interessant sie auch sein mögen und auch, wenn sie sich überschneiden, bleiben eine Art Rapport, den es musikalisch natürlich zu beleben gilt.
Und jetzt die CD, um die es hier eigentlich geht: Das Corona-Guitar-Kvartet hat seine Debüt-CD vorgelegt … hat es natürlich nicht! Aber es ist ihre erste CD, die aus einem heterogen zusammengesetzten Programm besteht, aus Stücken interschiedlicher stilistischer Herkunft, wie das für Bewerbungsschreiben oder Aufnahmeprüfungen verlangt wird. Aber die Musiker sind keine Debütanten, keine Novizen, die in die Gesellschaft der erwachsenen, ernstzunehmenden Musiker aufgenommen werden wollen.
Zunächst fällt auf, dass sich das Corona Kvartet durch größere Klangbreite auszeichnet. Die vier Gitarristen spielen nämlich nicht auf identisch besaiteten und identisch gestimmten Gitarren, sondern benutzen neben zwei herkömmlichen Instrumenten je eine Terzgitarre und eine achtsaitige, im Bass erweiterte Gitarre. Diese auf den ersten Blick geringe Änderung ergibt ein weiter gefächertes und differenziertes Klangbild.
Nun will ich keineswegs die Attraktivität, welche diese CD auf mich ausübt, nur auf die Instrumentierung zurückführen. Nein, die Dänen gehen sehr sensibel mit der Musik um, sie verstehen es, mit den klanglichen Vexierbildern zu spielen, die Maurice Ravel liefert, und zwar in einer sehr wirkungsvollen Transkription von Primo Beraldo; sie werden den fast vierhundert Jahre alten Instrumentalstücken aus der Sammlung von Thomas Morley gerecht, die Lebenslust mit royaler Zurückhaltung demonstrieren; und dann schaffen sie es auch noch, das Stück „Polarnætter“, was nichts anderes heißt als Polarnächte, von Hueh-Yung Shen, dem in Washington, DC, geborenen und dann bei der Boulanger in Paris und später bei Darius Milhaud (in Aspen) ausgebildeten Komponisten, darzustellen, und zwar atemberaubend dicht und dramatisch, sehr berührend und mystisch. Dass nach all dem auch die abschließenden Tangos von Astor Piazzolla gefallen, wundert nicht wirklich … allein, hier wäre etwas weniger Geradlinigkeit angebracht gewesen. Müssen diese Tangos nicht irgendwie aus dem Ruder laufen um als argentinische Tangos durchzugehen? Hier tun die Musiker des Corona Guitar Quartets etwas zu viel des Guten. Hier wird etwas zu klassisch skandiert, hier riecht man zu wenig die Atmosphäre des schmuddeligen Bordells am Rio de la Plata.