‘Das alles ist Ensemblemusik vom feinsten, die aus dem Geist der Alten Musik genauso wie aus der Gegenwart schöpft…’

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Stehen Musiker im hohen Norden souveräner über den Dingen, wenn es um Grenzziehungen, um die Weite des künstlerischen Blickes geht? Lassen sie ihre Ideen freier fließen, da der eng umkämpfte Musikmarkt Mitteleurpos mit seinen Erwartungen beruhigend weit weg ist? Bei Robert Jürjendal, einem (am liebsten elektrischen spielenden) Gitarristen, Komponisten und Songschreiber aus Estland könnte man diesen Eindruck gewinnen. Seine neue CD „Five Seasons“ – so heißt übrigens auch das hier aufspielende langjährig bewährte fünfköpfiges Ensemble – favorisiert eine Songpoesie, die manchmal von weit her kommt und dennoch nah anmutet und dabei so ganz aus der Zeit gefallen zu sein scheint. Etwa, wenn sie eine erfrischende Prise Folk präsentiert, aber auch eine zeitlose klassische Diktion nicht verneint. In dieser Hinsicht erlebt jeder Hörer Überraschendes, wenn er sich zusammen mit den bis zu fünf Musikern auf die Reise über den fantasievollen musikalischen Fluss begibt. Hinter jeder Wendung kann ein neues Panorama auftauchen.
Nach einem sanften, hochkultiviert gestalteten Arpeggiengewoge erhebt die Sopranistin Sara Fill ihre Stimme, setzt an zu dramaturgisch weitgespannten Song-Epen, zu denen Volkman Zimmermanns vielgestaltiges Figurenspiel auf den akustischen Saiten hinzukommt. Zuweilen macht die Sängerin etwas zu viel Druck, was nicht so gut passt, da die Qualität von Jürjendals Musik doch eher in den ätherischen Schwebezuständen gründet. Aber schon im nächsten Moment sind die Kräfte wieder ausbalanciert. Zu den Highlights gehört definitiv ein Stück namens Mutability, wo vor allem Vibraphon (Madis Metsamart) und elektrische Gitarre (Robert Jürjendal) zur Ausgestaltung der Klangfarbe beitragen. Und dann kommt auch Sara Fills Gesang wieder eindringlich und auch melancholisch daher, dabei kann sie auf den Halt vertrauen, den das Gitarrenspiel in jedem Moment bietet. Die Stücke sind erfrischend variantenreich gehalten, weisen beständig neue Aspekte auf. Stücke, die Loves Theme oder To Music kommen rezitativisch daher. In einer Passacaglia ist Robert Jürjendal auf sich selbst fokussiert, wenn er auf einer elektrischen Gitarre die hohe Kunst der Bachschen Polyphonie ins Heute, ins ganz persönlich Subjektive verpflanzt. Das ist aber noch längst nicht alles. Die vielen fantasievoll und klug eingesetzten Instrumentationen gipfeln in Aleksei Seks Spiel auf dem historischen Corno di Caccia, welches von seinem Spieler höchst musikantisch ins Atmen, Schwelgen und Jubeln versetzt wird.
Das alles ist Ensemblemusik vom feinsten, die aus dem Geist der Alten Musik genauso wie aus der Gegenwart schöpft und dabei ein zeitgemäßes Songwriting pflegt. Die sich selbst genug ist, weil sie so authentisch wirkt. Zwar kommen auch manchmal gewisse Untiefen, etwa in Gestalt einer gar zu süßlich geratenen Ballade in die Quere – aber solche Eindrücke werden durch die vielen Entdeckungen schnell wieder kompensiert.
Stefan Pieper [02.10.2018]